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Ukraine-Krieg: "Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig"

Wien, 17. August 2022  - Am 175. Tag des Krieges um die Ukraine zieht Oberst Markus Reisner eine Zwischenbilanz. 

Das sagt unser Experte:

Wie stellt sich die derzeitige Lage dar?

Im sechsten Monat des Krieges um die Ukraine stellt sich dieser blutige und verheerende Konflikt nach wie vor als ein "Wechselbad der Gefühle" dar. Laufende Medienmeldungen über Erfolge und Misserfolge prägen das Bild auf beiden Seiten. In dem von Beginn an auch als Informationskrieg geführten Krieg ist es zunehmenden schwieriger, den Überblick zu wahren. Wie bei länger andauernden Konflikten üblich, tritt zudem eine gewisse Resignation in der regionalen und globalen Medienberichterstattung ein. Neue Ereignisse, wie z.B. das Kräftemessen zwischen China und den USA um Taiwan, bestimmen die Titelblätter.

Westliche Nachrichtendienste berichten laufend über die gravierenden Schwächen der russischen Einsatzführung und sagen sogar den baldigen Zusammenbruch des russischen Angriffes voraus. Doch dieser Kollaps tritt nicht ein. Das Gegenteil scheint der Fall. Im Donbass rücken die russischen Kräfte an breiter Front noch immer langsam, aber stetig vor. Im Süden konnten sie bei Cherson bis jetzt den strategisch wichtigen Brückenkopf am Westufer des Dnepr halten. Der Abzug aus dem Raum Kiew wurde der eigenen russischen Bevölkerung hingegen erfolgreich als Teil des Gesamtplans einer "Demilitarisierung" der Ukraine präsentiert.

Betrachtet man die Kämpfe im Detail, so erkennt man aus militärischer Sicht eines: Die westlichen Waffenlieferungen zeigen zwar Wirkung, aber noch immer nicht in durchschlagender und nachhaltiger Form. Das Ergebnis muss messbar sein. Erst bei einem vollumfassenden Stopp der russischen Angriffe oder bei einem Zurückweichen der russischen Truppen (analog zur Situation um Kiew im März 2022) kann man aus nüchterner, objektiver und militärischer Sicht tatsächlich von einer Wende im Krieg sprechen. Die bis jetzt eingetroffenen westlichen Waffenlieferungen bewirken, dass die ukrainischen Streitkräfte "zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben haben". Wenn die bis jetzt aus den USA gelieferten 16 Mehrfachraketenwerfer vom Typ HIMARS bis jetzt nachvollziehbare Erfolge erzielt haben, stellt sich die Frage: Warum liefern die USA nicht mehr?

Macht die Wirkung der gelieferten westlichen Waffen einen Unterschied?

Im Moment decken die westlichen Waffenlieferungen immer noch nur einen Teil des tatsächlichen Bedarfs der Ukraine. Wichtige Kernfähigkeiten, wie z.B. leistungsfähige Flugabwehrsystem mittlerer und hoher Reichweite sind zwar in geringer Stückzahl zugesagt, aber noch immer nicht geliefert worden. Die ukrainischen Luftstreitkräfte sind schwer getroffen. Sie agieren zwar mutig, aber doch defensiv und verfügen kaum über Offensivfähigkeiten. Die ukrainischen Landstreitkräfte werden laufend abgenützt. Viele Berufssoldaten sind gefallen oder verwundet. Der personelle Ersatz wird oft nach unzureichender Ausbildung und mit kaum vorhandener Ausstattung an die Front geschickt.

Die eintreffenden westlichen Artilleriesysteme werden entlang der Frontlinie hin und hergeschickt, um "Effekte" auf russischer Seite zu erzielen – beispielsweise die Zerstörung russischer Munitionsdepots. Diese Frontlinie ist knapp 1.200 Kilometer lang – von Charkiv im Norden bis nach Cherson im Süden. Zum Verständnis: Dies wäre dieselbe Strecke, die man mit dem Auto von Berlin nach London fahren müsste. Trotz der massiven Unterstützung mit Aufklärungsdaten, vor allem durch die USA, ist der ukrainische Generalstab laufend gefordert zu beurteilen, wo er seine wenigen Mittel (vor allem weitreichende Artillerie) einsetzt.

In der Ukraine sind auf dem Gefechtsfeld zudem eindeutig alle Merkmale eines zermürbenden Abnützungskrieges erkennbar. Wie vor knapp einhundert Jahren bestimmt der Einsatz der Artillerie die Situation an der Front. Das laufenden "Trommelfeuer" soll die gegnerischen Stellungen "sturmreif" schießen. In der Tiefe des Gegners versucht man, dessen Nachschub zu unterbrechen oder zu zerstören. Eisenbahnlinien, Brücken und Bahnhöfe haben hohe Bedeutung. Drohnen zur Artillerieaufklärung oder im "Kamikaze"-Einsatz, Artilleriefeuerleit-Apps, Präzisionsmarschflugkörper oder Mittelstreckenraketen, Satelliten- und Funkaufklärung täuschen nur darüber hinweg, dass der Krieg nach wie vor mit äußerster Brutalität geführt wird.

Was sind die größten Herausforderungen für die ukrainische Seite?

Vor allem die Herausforderungen der Logistik (Instandsetzung, Nachschub, Ersatz) sind für die ukrainischen Streitkräfte enorm. Immer wieder gelingt es der russischen Seite, die ukrainische Artillerie zu treffen oder ihre Aufklärungs- und Angriffsdrohnen abzuschießen. Mittlerweile gibt es knapp zwei Dutzend Videos, die die Zerstörung von US-Haubitzen vom Typ M777 oder von aus Europa gelieferten Selbstfahrlafetten zeigen.  Die Ukrainer müssen daher beweglich bleiben, um nicht von den Russen aufgeklärt zu werden. Die wichtige Munition "eilt" der eigenen Artillerie daher oft "hinterher".

Wird ein Abschnitt der knapp 1.200 km langen Front von den ukrainischen Streitkräften zu stark "ausgedünnt", steigt dort sofort der russische Druck. Wie derzeit westlich von Donetsk bei Marjinka, Pesky und Awdijiwka. Hier haben die russischen Kräfte in den letzten Tagen begonnen, die starke "erste" ukrainische Verteidigungslinie zu durchbrechen. Analog zu Anfang Mai, wo der Durchbruch bei Popasna zu der für die Ukraine verlorenen Kesselschlacht von Lyssytschansk geführt hat. Hier konnte die selbstständige, initiative und vor allem bewegliche Verteidigung einzelner ukrainischer Brigadekommandanten das Schlimmste verhindern.

Westlich es überschrittenen Siwerskij Donetsk-Flusses stehen die russischen Truppen nun vor Sewersk und der wesentlich schlechter ausgebauten "zweiten" ukrainischen Verteidigungslinie. Nach einer "dritten" Linie bei Slowjansk und Kramatorsk folgt nur mehr das weite ukrainische Land bis zum Fluss Dnepr. Ein Durchbruch in der Tiefe, z.B. bei Izjum hinter die "dritte" Linie würde zu einem ukrainischen Desaster im Donbass führen. In den Wäldern von Izjum liefern sich ukrainische und russische Spezialeinsatzkräfte im Verborgenen ein blutiges Gemetzel. Auch hier ist das Ziel der Ukrainer, den Nachschub der Russen zu unterbrechen.

Warum konnte die russische Seite noch nicht zurückgeschlagen werden?

Spektakuläre Angriffe der ukrainischen Seite, wie z.B. die schwere Beschädigung der wichtigen Brücken über den Fluss Dnepr bei Cherson, die bis jetzt über fünfzig(!) erfolgreichen Angriffe auf russische Munitionslager sowie nicht zuletzt die Zerstörung von Flugplätzen, Munitionslagern und Trafostationen auf der Krim verursachen zwar spektakuläre Schlagzeilen, aber keine Einstellung der Kämpfe. Ein nachhaltiger Abwehrerfolg oder gar die Vorbereitung und Durchführung einer schlagkräftigen, entscheidenden ukrainischen Offensive – wie für den Süden angekündigt – ist immer noch nicht in Sicht. Die vom ukrainischen Präsidenten nun wiederholt durchgeführten Personalwechsel zeigen seine Ungeduld. Auf russischer Seite werden hingegen Generäle medienwirksam mit Orden geehrt und "routinemäßig ausgetauscht". So zumindest das russische Narrativ, das auch hier klar über Misserfolge hinwegtäuscht.

Gerade im Süden, im Raum Cherson, werden die herangeführten ukrainischen mechanisierten Kräfte in dem für sie für eine Bereitstellung ungünstigen flachen und kaum bewachsenen Gelände immer wieder durch russische Drohnen aufgeklärt und durch Artillerie zerschlagen. Die vielen im Westen geteilten ukrainischen Drohnenvideos explodierender russischer Kampffahrzeuge täuschen darüber hinweg, dass ähnliche Bilder in hoher Zahl auf russischer Seite geteilt werden. Die Angriffe auf der Krim zeigen, dass die ukrainische Seite die "Achillesferse" der Russen erkannt hat. Der Erfolg wird sich aber erst in Wochen messen lassen.

Zudem stellt sich die Frage, ob die Russen diese Angriffe vergelten werden. Die unklare Situation um das von russischen Truppen besetzte größte(!) europäische Atomkraftwerk bei Zaporizhzhia und die gegenseitigen Schuldzuweisungen bei dem verheerenden Angriff auf ein Lager mit ukrainischen Kriegsgefangenen sind Zeichen einer überaus gefährlichen Eskalationsspirale. Auch der Beschuss von Donetsk mit Brandmunition steigert den Druck. Die russischen Angriffe bei Donetsk in Richtung Westen sind hier in jedem Fall im Zusammenhang zu sehen. Die Grundsätze des humanitären Völkerrechts werden immer massiver gebrochen oder völlig ignoriert. Im Gegenteil, der unterlegene Verteidiger muss in den asymmetrischen Kampf übergehen, will er überhaupt überleben.

Bis jetzt wurden über 3.100 russische Marschflugkörper und ballistische Raketen auf Ziele in der Ukraine abgefeuert. Die Bilder der zerstörten Objekte, welche auch in den ukrainischen Medien gezeigt werden, zeigen eine hohe Trefferquote. Die Ukraine vermeldet (Stand 14. August 2022), dass die eigene Flugabwehr bis jetzt 187 russische Marschflugkörper abgeschossen hätte. Eine zu geringe Anzahl, um die laufende "strategische Abnützung" zu beenden. Die Feststellung bzw. die Annahme, dass viele russische Raketen nicht treffen würden, spiegelt nicht die täglich in den sozialen Netzwerken beider Seiten gezeigte bildliche Realität wider.

Kann die Ukraine diesen Krieg gewinnen?

Wenn der Westen nicht in den kommenden Wochen gesteigerte Stückzahlen hochmoderner Waffen (darunter vor allem Artillerie und Mehrfachraketenwerfer, aber auch weitreichende Fliegerabwehr) in die Ukraine liefert, kann die Ukraine diesen Konflikt nicht für sich entscheiden. Es liegt daher in der Hand des Westens, wie dieser Krieg weiterverlaufen wird. Solange die Ukraine nicht ihren Luftraum gegen russische Marschflugkörper und ballistische Raketen schützen kann, scheint jede regional gebundene militärische Wiederaufrüstung illusorisch. Diese ist aber notwendig, wenn die Ukraine das verlorene Land wieder in Besitz nehmen möchte. Jene Gebiete, die sie notwendig braucht, um wirtschaftlich überleben zu können.

Es fehlt daher nicht am Verteidigungswillen der Ukrainer, es fehlt an der ernst gemeinten Unterstützungsbereitschaft des Westens. Es kann aber auch sein, dass dies das Kalkül des Westens ist, und man abwartet, wie sich das Ergebnis bis zum Ende des Sommers auf dem Schlachtfeld darstellt. Ist Russland im Oblast Donezk erfolgreich, könnte es durchaus sein, dass es eine Bereitschaft zu Verhandlungen signalisiert. Das kann auch aus einer Situation der Erschöpfung heraus der Fall sein. Viele europäische Länder werden dann vermutlich Druck auf die Ukraine ausüben, diesem russischen Vorschlag nachzukommen.

Was ist die größte Gefahr?

Der Westen, und hier vor allem Europa, ist zunehmend mit sich selbst beschäftigt. Steigende Energiekosten, der Schatten einer kommenden Rezession, steigende Unzufriedenheit in den Bevölkerungen und eine rebellierende Wirtschaft bereiten Sorgen. Man stellt in Europa ernüchtert fest, dass sich der 42 Prozent Rohstoffanteil, welcher bis zum Februar 2022 aus Russland gegen Westen geflossen ist, eben nicht so einfach kompensieren lässt. Man möchte den eigenen Wohlstand nicht verlieren. Auch nicht zum Wohle vom Krieg Betroffener. Und die Notwendigkeit einer umfassenden Unterstützung der Ukraine steigt, in Hinblick auf den bevorstehenden Winter, von Woche zu Woche. Die schwierige humanitäre Lage (Sicherstellung der notwendigen Grundversorgung der ukrainischen Bevölkerung) wird sich durch die kommende Kälte weiter massiv verschlechtern. Die ukrainische Regierung richtete dazu bereits entsprechende Appelle an den Westen.

Moderne Kriegsführung ist vor allem ein Krieg um die Köpfe. Das Bild, welches wir von einem Konflikt haben, prägt entscheidend unsere Meinung dazu. Es bestimmt, ob wir einen Konflikt als "gerecht" empfinden und ob wir bereit sind, ihn zu unterstützen. Im Konflikt in der Ukraine beginnt diese Unterstützung im Moment in unserer Kommunikation und endet in der Durchführung von Waffenlieferungen. Es ist daher immer das Ziel der Kontrahenten, die jeweilige andere Seite zu beeinflussen. Das Militär bezeichnet dieses Vorgehen als "kognitive Kriegsführung". Ein umfassend geführter Abnützungskrieg wird selten am Schlachtfeld entschieden, sondern oft in den Köpfen der Bevölkerung im Hinterland.

Für die russische Seite ist daher der entscheidende Angriffspunkt die Bereitschaft des Westens, die Ukraine weiter zu unterstützen. Russland versucht daher in allen verfügbaren Domänen (v.a. im Cyber- und Informationsraum), diese Bereitschaft zu schwächen. Rohstoffentzug und Atomwaffendrohungen sind hier die eingesetzten Waffen, um Wirkung zu erzielen. Der Westen versucht hingegen, den Zusammenhalt der russischen Gesellschaft zu treffen. Sanktionspakete und wirtschaftliche Strafmaßnahmen sollen Druck ausüben. Die russische Wirtschaft erleidet bereits schwere Treffer. Die Frage ist, werden diese eine Verhaltensänderung bewirken oder nicht? Im Moment lässt sich ein entscheidender Erfolg weder am Schlachtfeld noch an der Heimatfront  messen, womit klar ist, dass die Waffen in der Ukraine noch lange nicht schweigen werden.

Oberst Markus Reisner.

Oberst Markus Reisner.

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