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"Ukrainisches Fegefeuer" - Der Krieg um die Ukraine, eine Kurzzusammenfassung nach 250 Tagen

Wien, 01. November 2022  - Nach 250 Tagen ist die Lage im Krieg um die Ukraine von weiteren verheerenden Eskalationen geprägt. Dazu zählen in den letzten Wochen mehrere gegenseitig durchgeführte spektakuläre Angriffe. Diese lassen erkennen, dass eine Befriedung des Konflikts in naher Zukunft ausgeschlossen werden kann. Die größte Gefahr für den Westen und hier vor allem für Europa liegt darin, den Konflikt mit Russland um die Ukraine zu unterschätzen.

Die seit dem 10. Oktober laufenden Angriffe der russischen Seite auf die kritische Infrastruktur der Ukraine haben immer schwerere Zerstörungen zur Folge. Im nun folgenden Winter kann dies verheerende Auswirkungen auf die Ukraine haben. Deren Fähigkeit, den Abwehrkampf weiter fortführen zu können ist gefährdet. Die in der Ukraine verbliebenen 35 Millionen Menschen stehen vor einem harten Winter mit ungewissem Ausgang.

Der Autor zieht im nachfolgenden Long Read eine Zwischenbilanz und wagt einen Blick in die Zukunft:

"Krieg ist zuerst die Hoffnung, daß es einem besser gehen wird, hierauf die Erwartung, daß es dem andern schlechter gehen wird, dann die Genugtuung, daß es dem andern auch nicht besser geht, und hernach die Überraschung, daß es beiden schlechter geht." (Karl Kraus)

Die taktisch / operative Ebene – Zum Stand der ukrainischen Offensiven

Das Ziel eines schnellen Sieges Russlands über die Ukraine ist am Beginn, mit dem Abwehrerfolg der Ukrainer bei Kiew, gescheitert (Phase 1). Im Anschluss versuchte Russland im Donbass die Entscheidung zu suchen. Dabei gelang ein regional begrenzter Erfolg im Donbass (Phase 2). Mit den im Sommer aus dem Westen eingetroffenen schweren Waffen konnte die Ukraine neuerlich, rechtzeitig vor dem Winter, zu einer Gegenoffensive übergehen und signifikante Geländeabschnitte zurückgewinnen (Phase 3). Diese Geländegewinne waren bedeutungsvoll und erbrachten messbare Erfolge, es fehlt jedoch nach wie vor der durchschlagende Erfolg. Dies kann nur in einem Zusammenbrechen der russischen Streitkräfte zumindest an einem Frontabschnitt gesehen werden. Die jetzigen Erfolge der ukrainischen Streitkräfte waren „Siege nach Punkten“. Es gelang zwar Gelände und militärisches Gerät in Besitz zu nehmen, aber nicht tausende russische Gefangene zu machen. Erst Letzteres würde zu einem „K.O.“ bzw. einem Zusammenbrechen führen. Aus dem Raum ostwärts Charkiv wurden z. B. von der ukrainischen Seite in der Stadt Lyman „über 5.000 eingekesselte russische Soldaten“ vermeldet. Zu deren Gefangennahme ist es aber nicht gekommen. Die zweite Offensive in Cherson war in der Vorbereitungsphase von schweren ukrainischen Verlusten durch russische Artillerie geprägt. Trotzdem gelang es den ukrainischen Streitkräften, an drei Stellen anzugreifen und den nordöstlichen Brückenkopf einzudrücken. Allerdings gelang den Russen auch hier der Rückzug in Richtung Südwesten. Nun kommt ihnen die beginnende Schlammperiode („Razputiza“) zur Hilfe.

Im Verborgenen versucht die Ukraine noch eine weitere dritte Offensive voranzutreiben. Ein Stoß aus dem Raum ostwärts des Dnepr-Knies bzw. Zaporozhye in Richtung Melitopol und Asowsches Meer. Würde er gelingen, wäre die gesamte russische Kräftegruppierung im Raum Cherson, Zaporozhye und auf der Krim vor dem Winter von der Versorgung abgeschnitten. Das „Nadelöhr“, die Brücke über die Straße von Kertsch, und maritime Seetransporte könnten die fehlende Landverbindung nicht kompensieren. Im Moment versuchen die russischen Kräfte die ukrainischen Bereitstellungen in Zaporozhye (analog zum Vorgehen in Cherson im August / September) mit Artillerie, „Kamikaze“-Drohnen und Luftstreitkräften zu zerschlagen. Die Ukraine setzt dagegen eigene weitreichende Artillerie (darunter aus den USA gelieferte HIMARS-Systeme), „Gepard“-Flugabwehrpanzer und S300 Fliegerabwehrbatterien ein. Es ist eindeutig erkennbar, dass Russland sich entlang des von ihm besetzten Gebiets zur Verteidigung eingräbt. Im Donbass und Cherson sind umfangreiche Schanzarbeiten erkennbar. Die Russen sind offensichtlich gekommen, um zu bleiben. Ein Zusammenbruch der Moral ist, trotz aller im Westen gezeigten gegenteiligen Videos, noch nicht erkennbar. Die Teilmobilisierung ist trotz anfänglicher gravierender Missstände angelaufen. Im Dezember und Jänner werden die Masse der Mobilisierten in den Kampfräumen eintreffen und dort das seit Februar bestehende Hauptdefizit der russischen Streitkräfte, den Mangel an Infanterie, ausgleichen. Darauf muss sich die Ukraine über den Winter vorbereiten.

Die strategische Ebene – Die russischen Terrorangriffe

Seit Anfang Oktober ist der Konflikt von einer weiteren massiven Eskalation geprägt. Nicht zuletzt der versuchte ukrainische Angriff und die schwere Beschädigung der russischen Brücke über die Straße von Kertsch, ein Symbol russischer Okkupation, hat dazu geführt, dass Russland einen Strategiewechsel vollzog. Dieser erfolgte auf der strategischen Ebene. Seit dem 24. Februar ist die Ukraine Opfer weitreichender Angriffe der russischen Luft und Seestreitkräfte. Präsident Zelensky nannte dazu wiederholt konkrete Zahlen. So waren bis 9. Juni 2.500, bis zum 23. August 3.500 und mit Mitte Oktober 4.500 russische ballistische Raketen, Marschflugkörper und Drohnen gegen Ziele eingesetzt worden. Seit dem 10. Oktober erfolgt ein Schlag nach dem anderen. Ukrainische Quellen sprechen davon, dass bereits über 40% der kritischen Infrastruktur getroffen worden sind. Aktuelle Satellitenbilder zeigen eine zunehmend dunkel werdende Ukraine. Obwohl sich die Arsenale an russischer Langstrecken Präzisionsmunition, vor allem der Typen 3M14 KALIBR, Kh101 und 9K720 ISKANDER langsam leeren, ist kein Ende der Angriffe in Sicht. 

Der ukrainische Generalstab geht davon aus, dass das Potential russischer Marschflugkörper zu über 50% erschöpft ist bzw. dass der verfügbaren ballistischen Raketen bereits unter 20% steht. Russland hat es hier aber durch die Anlieferung iranischer Drohnen vom Typ SHAHED-136 geschafft, sein Momentum aufrechtzuerhalten. Die russische Angriffstaktik ist wohlüberlegt. So erfolgen die Angriffe mittels Drohnenschwärmen von zehn bis 15 SHAHED-136. Deren geringer Radarquerschnitt macht es der ukrainischen Luftabwehr schwer, sie zeitgerecht zu erkennen. Durch eigene Hilfsmeldesysteme versucht man sie frühzeitig zu erkennen und abzuwehren. Den Drohnen folgen die russischen Marschflugkörper. Durch die Übermittlung von Aufklärungsdaten durch die USA gelingt es aber auch hier, die aus dem Schwarzen Meer (seegestützter Abschuss) oder dem weißrussischen Luftraum (Einsatz per Tu95 und Tu160 Bomber) anfliegenden Marschflugkörper rechtzeitig zu erkennen. Durch die zuvor geschehene „Übersättigung“ der ukrainischen Fliegerabwehr mit Drohnen treffen trotzdem nicht wenige ihre Ziele. Bei dem Eintreffen der Marschflugkörper im Zielgebiet fehlt es oft bereits an Abwehrraketen. Laufende Flugbewegungen zwischen dem Iran und Russland lassen die Ankunft weiterer Drohnen vom Typ ARASH-2 und ballistischer Mittelstreckenraketen erwarten. Alleine vom Typ SHAHED-136 soll Russland 1.700 Stück beschafft haben. Über 350 Stück davon soll die Ukraine bereits abgeschlossen haben.

Das im Westen kolportierte Narrativ, dass insgesamt nur 20% der russischen Angriffsmittel ihre Ziele treffen, kann in Anbetracht der seit dem 10. Oktober zerstörten Infrastruktur nicht aufrecht erhalten bleiben. Die Ukraine braucht rasch und umfangreich moderne Multisensor-Fliegerabwehrmittel kurzer, mittlerer und hoher Reichweite. Nur so kann sie die eigene Tiefe des Landes schützen und eine Versorgung der Bevölkerung sicherstellen. Die Ukraine verfügt noch aus der Zeit der Sowjetunion über ein umfangreiches 750- und 330kV Netz. Die Stromversorgung stützt sich auf einen Mix an Atom-, Wasser- (entlang des Dnepr) und kalorischen Kraftwerken ab. Russland begann am 10. Oktober, die 330kV Ringleitungen zu zerstören. Bis jetzt wurden ca. 60% dieser Anlagen zerstört. Mitte Oktober erfolgte dann bei Kiew ein erster Angriff auf das „zentrale Nervensystem“, die 750kV Leitungen. Diese führen von den restlichen neun vorhandenen Reaktoren in den drei Kernkraftwerken weg und speisen über sieben zentrale Umspannwerke die 330kV Leitungen. Die Zerstörung der Umspannwerke und der zentralen 750kV Leitung hätte verheerende Folgen. Ziel der Angriffe der Russen ist eindeutig die ukrainische Bevölkerung. Deren Leiden soll im kommenden Winter bis zur Unerträglichkeit gesteigert werden. Das Ziel ist es, Widerstand gegen die ukrainische Regierung bzw. umfangreiche Fluchtbewegungen auszulösen.

Der überregionale Konflikt – Eine Auseinandersetzung ohne territoriale Grenzen

Der Angriff der Ukraine auf den Hafen der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol am 29. Oktober zielte darauf ab, jene russischen Kriegsschiffe zu treffen, von denen die seegestützten Marschflugkörper in Richtung der Ukraine abgefeuert werden. Trotz des innovativen Einsatzes einer Kombination von „Kamikaze“-Drohnen sowie „Kamikaze“-Booten, erfolgte am Morgen des 31. Oktober eine neuerliche verheerende russische Angriffswelle auf Ziele in der Ukraine. Die Ukrainer vermeldeten den Abschuss von 44 der 50 abgefeuerten Marschflugkörper. Trotzdem trafen nicht wenige davon, in Kombination mit zusätzlichen Drohnenangriffswellen, Ziele in der Ukraine. Der ukrainische Angriff auf den Hafen Sewastopol, wie auch zuvor die Versenkung des russischen Flaggschiffs „Moskva“ bzw. der Angriff auf die russische Luftwaffenbasis von Saki auf der Krim, zeigen die immer intensivere Beteiligung des Westens an den Angriffen. Dabei ist nicht nur die zur Verfügungstellung von Aufklärungsdaten (erflogen durch bemannte und unbemannte Plattformen der USA und NATO) entscheidend, sondern vor allem auch die Ausbildung ukrainischer Soldaten zur Befähigung der Durchführung von derartigen spektakulären Angriffen. So sticht ins Auge, dass bereits im Sommer wiederholt in englischen Medien die britische Unterstützung bei der Ausbildung der ukrainischen Marinespezialkräfte kolportiert wurde. Hinzu kommt auch die vor kurzem beschlossene Ausbildungsmission der EU.

In den letzten Wochen häuften sich auch überregionale Vorfälle. Darunter die Zerstörung von drei der vier NS1- und NS2-Pipelines. Obwohl Russland sofort auf den Westen als Verursacher hinwies, ist folgende Tatsache interessant: Einige Zeit nach dem Angriff kam das russische Angebot, dass man durch eine unbeschädigte NS2-Leitung doch noch lieferfähig wäre. In Folge kam es zu weiteren interessanten Vorfällen. Dazu zählen Sabotageakte gegen die deutsche Bahn und unterbrochene Unterseekabel im Mittelmeer und im Nordatlantik. Des Weiteren Probleme bei der Stromversorgung auf der Insel Bornholm und die Festnahme eines mutmaßlichen russischen Spions in Norwegen. Gerade Norwegen hat für Europa eine hohe Bedeutung, denn der Ausfall russischer Ressourcenlieferungen soll gerade durch die norwegische Rohstoffproduktion kompensiert werden. So passt es ins Bild, dass Norwegen am 31. Oktober seine Streitkräfte in erhöhe Alarmbereitschaft versetzte. Diese Ereignisse zeigen, dass der Konflikt in der Ukraine zunehmend auch eine überregionale Dimension bekommt. Es erscheint daher als sehr wahrscheinlich, dass Russland versucht, den Druck auf die europäische Bevölkerung durch hybride Angriffe zu erhöhen.

Der Wirtschaftskrieg – Das Spiel der Russen mit der Angst des Westens

Der hybride Krieg ist in Europa bereits angekommen. Er findet zur Zeit vor allem als Kampf im Informationsraum statt. Beide Konfliktparteien versuchen hier gezielt zu beeinflussen. Der Hinweis von Präsident Zelensky, dass es zu einer neuerlichen Flüchtlingswelle nach Europa kommt, wenn die Ukraine nicht dabei unterstützt wird, die russischen Luftangriffe auf seine kritische Infrastruktur zu stoppen, ist ein Beispiel dafür. Für die Ukraine gilt hier ganz klar: „Der Zweck heiligt die Mittel.“ Möchte sie als Land überleben, muss sie alles dazu Notwendige tun. Die Ukraine muss jede nur erdenkliche Unterstützung annehmen, um im Kampf gegen Russland weiterhin bestehen zu können. Tut sie dies nicht, hört sie als Staat auf zu existieren. Empörung über ihr Vorgehen ist dabei fehl am Platz. Die Ukraine kämpft um ihr Überleben.Die russische Seite geht hingegen noch massiver vor. Das „Center of Gravity“ der Ukraine ist die Unterstützung des Westens. Ohne diese kann die Ukraine nicht weiterkämpfen oder den Konflikt zu eigenen Gunsten wenden. Russland hat dies erkannt und versucht genau hier wirksam zu werden. Während also die Ukraine auf taktisch / operativer Ebene Erfolge verbucht, die russische Seite auf strategischer Ebene Terror ausübt, kommt der Kampf um unsere Haltung zum Ukrainekrieg hinzu. Russland schürt im Besonderen drei Ängste: die Angst vor einem wirtschaftlichen Niedergang in Europa (ausgelöst durch den Boykott bzw. Entzug russischer Rohstoffe), die Angst vor einer nuklearen Katastrophe (durch einen Angriff auf ein Atomkraftwerk, eine „schmutzige Bombe“ oder ein Einsatz taktischer Atomwaffen) und die Angst vor einer Migrationswelle als Folge einer globalen Hungersnot (ausgelöst durch das Ausbleiben des ukrainischen Getreides auf dem Weltmarkt). Russland möchte den Westen in die Knie zwingen, koste es was es wolle. Das russische Regime verachtet die westlichen Gesellschaften als verweichlicht, dekadent und verteidigungsunfähig.

Die Zukunft – Ein eskalierender Konflikt ohne absehbares Ende

Russland versucht zudem weiterhin strategische Allianzen zu schmieden. Ein eindeutiges Zeichen dafür war der 20. Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas. Russlands Außenminister Lawrow und der chinesische Außenminister Wang Yi ließen in Folge mit einer gemeinsamen Presseerklärung aufhorchen. In dieser war zu lesen: „… China werde Russland unter Führung von Präsident Putin nachdrücklich dabei unterstützen, das russische Volk zu vereinen, um Schwierigkeiten und Störungen zu überwinden und den Großmacht-Status Russlands weiter zu stärken“, sowie, dass „… jeder Versuch (des Auslands), China und Russland an ihrem Vormarsch zu hindern, zum Scheitern verurteilt ist.“ Russland ist fest entschlossen, diesen Krieg weiter voranzutreiben. Solange in Russland kein „Oktober 1917“-Effekt eintritt, wird es den Kampf weiterführen. Es mag einem schwer fallen, dies zu glauben, aber Vieles deutet exakt in diese Richtung. Russland hat ein Potential von 144 Mio. Menschen, davon über 30 Mio. Reservisten. Diesen stehen 35 Mio. Ukrainer gegenüber. Hier erfolgt bereits die fünfte Mobilisierungswelle, d. h. jeder bis zum Alter von 60 Jahren wird eingezogen. Europa ist gefordert, den Ernst der Lage zu erkennen. Der Krieg um die Ukraine wird nachhaltige Folgen für unsere Gesellschaften haben. Je früher wir dies erkennen, desto besser können wir uns darauf vorbereiten. Russland muss als ernster Gegner betrachtet werden. Es hilft weder der Ukraine noch uns, wenn wir uns über die russischen Streitkräfte lächerlich machen und ihr Ende schon kommen sehen. Daher ist mit folgendem Zitat zu schließen:

Wenn du dich selbst kennst, doch nicht den Feind, wirst du für jeden Sieg, den du erringst, eine Niederlage erleiden. Wenn du weder den Feind noch dich selbst kennst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen.“ (Sun Tzu)

Oberst Dr. Markus Reisner.

Oberst Dr. Markus Reisner.

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