Wie stellt sich die derzeitige Situation in Kursk dar?
Vor knapp einem Monat gelang es den Russen, durch den Einsatz weitreichender FPV-Drohnen die wichtigste ukrainische Versorgungslinie im Kursker Kessel unter Kontrolle zu bringen. Dies führte zu einer erheblichen Unterbrechung der Nachschublieferungen in die Stadt Sudja, den zentralen Logistikverteilerpunkt der Ukrainer. Letzte Woche begannen dann russische Flankenangriffe, die von den Ukrainern nicht mehr zurückgehalten werden konnten.
Kursk stellt für die Ukraine keine Entscheidungsschlacht wie Waterloo 1815 für Napoleon dar. Vielmehr drängt sich der Vergleich mit der deutschen Ardennenoffensive im Dezember 1944 auf: Damals wie heute waren die Ziele zu weit gesteckt, und trotz des Einsatzes kampfkräftiger Verbände konnten sie nicht erreicht werden. Dennoch gelang es der Ukraine über Monate hinweg, russische Kräfte im Kursker Raum zu binden – allerdings unter hohen Verlusten auf beiden Seiten.
Steht eine Einkesselung der ukrainischen Soldaten bevor?
Der Kessel ist in Richtung der russischen Grenze durch mehrere Gewässer begrenzt. Die Russen versuchen nun, die letzten intakten Brücken oder von ukrainischen Pionieren errichtete Behelfsbrücken zu zerstören, um den Rückzugsweg der Ukrainer abzuschneiden. Sobald sich Kräfte vor den Brücken sammeln, setzen die Russen Artillerie, Gleitbomben oder FPV-Drohnen ein. Die ukrainischen Soldaten, die diese Angriffe überleben, müssen sich entweder ergeben oder versuchen, zu Fuß auszuweichen.
Es ist ersichtlich, dass sich ukrainische Soldaten in kleinen Konvois zurückziehen – ein klares Zeichen für einen allgemeinen Rückzugsbefehl. Wo die Fahrzeuge nicht mehr weiterkommen, steigen die Soldaten aus und versuchen in kleinen Gruppen die Grenze zu erreichen – stets unter Beobachtung russischer Drohnen. Jetzt geht es vor allem darum, möglichst unversehrt aus dem Kessel zu entkommen und das eigene Leben zu retten.
Waren die Einsätze nordkoreanischer Soldaten entscheidend?
Die nordkoreanischen Soldaten wurden nach schweren Verlusten vor einigen Wochen vorerst von der Front abgezogen. Derzeit sind vor allem russische Verbände im Einsatz. Nordwestlich von Sudja greifen die russische 106. Luftlandedivision und Teile der 76. Luftlandedivision an. Sie haben bei Novenke die ukrainische Grenze überschritten. Südwestlich von Sudja rücken mehrere russische Marineinfanteriebrigaden und -regimenter direkt auf Sudja vor.
Welche Faktoren führten zum russischen Vormarsch?
- Fehlende Luftüberlegenheit der Ukraine: Es gelang den Ukrainern in den vergangenen Monaten praktisch nie, eine zumindest begrenzte Luftüberlegenheit herzustellen. Zwar wurden immer wieder russische Drohnen abgeschossen, doch die russische Aufklärung lieferte täglich Ziele für Gleitbomben- und Artillerieangriffe, die aus sicherer Entfernung ausgeführt wurden.
- Gezielte russische Angriffe: Besonders schwer wogen die russischen Angriffe an den Flanken sowie ein russischer Vorstoß durch eine Gaspipeline kilometerweit hinter die ukrainischen Stellungen.
Welche Absichten verfolgte die Ukraine mit ihrem Vorstoß?
- Ein möglichst tiefes Vordringen in russisches Territorium, idealerweise bis zum russischen Atomkraftwerk in Kursk, um ein Faustpfand zu haben.
- Die Entlastung der stark umkämpften Front im Donbass. Die Russen sollten von dort Verbände abziehen. Der russische Druck blieb dort trotzdem unvermindert hoch.
- Die Blamage Russlands, indem erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder Kämpfe auf russischem Territorium stattfanden.
Ob die ukrainischen Truppen sich geordnet zurückziehen und von eigenen Verbänden aufgefangen werden können, wird entscheidend sein. Gelingt dies nicht, könnten die Russen weiter vorrücken, bis sie auf eine stabile Verteidigungslinie treffen. Der größte Risikofaktor bleibt das Ausbrechen von Chaos oder Panik – ein Szenario, das 2022 die russischen Truppen bei Charkiw traf.
Wird Russland seine Ziele nach dem Erfolg in Kursk neu ausrichten?
Russland verfolgt das strategische Ziel, jede Bedrohung Moskaus durch weitreichende westliche Waffensysteme auszuschließen. Dafür muss es den kompletten Raum östlich des Dnepr kontrollieren – entweder direkt oder durch eine entmilitarisierte Zone, die idealerweise von chinesischen Friedenstruppen überwacht wird. Der Zusammenbruch der Kursker Front ermöglicht es Russland, seine Kräfte an anderen strategischen Abschnitten zu konzentrieren.
Die weitere Entwicklung hängt maßgeblich von der westlichen Unterstützung der Ukraine ab. Lässt diese nach – wie es aktuell der Fall ist – wird Putin seine Ziele weiter ausdehnen. Nach der vollständigen Einnahme der vier umkämpften Oblaste könnte das nächste Ziel ein Vorstoß über den Dnepr bis nach Transnistrien und die Einnahme von Odessa sein. Die Ukraine will dies unbedingt verhindern, doch aktuell liegt das Momentum bei Russland.
Wie wirken sich die ausbleibenden US-Hilfen auf die ukrainische Kampfführung aus?
Die USA liefern der Ukraine über ihre ISTAR-(Intelligence, Surveillance, Target Acquisition, and Reconnaissance)-Sensoren wertvolle Aufklärungsdaten. Dazu zählen Satelliten, spezialisierte Aufklärungsflugzeuge und andere Sensoren, die russische Kommandoposten, Störsender, Fliegerabwehrstellungen oder Truppenbewegungen identifizieren. Basierend auf diesen Daten konnten die Ukrainer präzise Angriffe durchführen.
Sollten diese Aufklärungsdaten ausbleiben, wird die Ukraine faktisch blind. Die Geschichte zeigt, dass Armeen, die in einer solch kritischen Phase ihres Krieges entscheidende Unterstützung verlieren, oft in den Untergang getrieben werden. Man denke an die Schlachten am Isonzo und der Piave im Ersten Weltkrieg. Jahrelange Kämpfe endeten dort mit einem plötzlichen Frontzusammenbruch – und dem Zerfall der K.u.K.-Monarchie.
Die Tragik der aktuellen Lage ist, dass der wichtigste Verbündete der Ukraine – die USA – ihr in einem entscheidenden Moment den Rücken kehrt.